Liebe Leser,
im zweiten Teil dieser Märchenartikelreihe geht es um die Unterscheidung von Volksmärchen und Kunstmärchen. Außerdem werde ich das Märchen „Hänsel und Gretel“ näher betrachten und mögliche Deutungen der darin vorkommenden Symbole mit Euch teilen.
Volksmärchen und Kunstmärchen
Märchen lassen sich in Volksmärchen und Kunstmärchen unterteilen. Im Folgenden erfahrt Ihr, was die beiden Märchenarten ausmacht:
Volksmärchen
Volksmärchen können keinem eindeutigen Verfasser zugeordnet werden. Sie wurden über Generationen hinweg mündlich überliefert, sodass es regional verschiedene Versionen gab. Zu den Volksmärchen zählen u. a. die Märchen der Brüder Grimm oder des Ludwig Bechstein. Diese waren nicht die Verfasser der Märchen, sondern sie ließen sich die Überlieferungen von vielen Menschen aus verschiedenen Orten erzählen und schrieben eine Version davon nieder. Bekannte Beispiele für Volksmärchen sind „Hänsel und Gretel“ und „Schneewittchen“.
Charakteristisch für die Volksmärchen ist eine einfach strukturierte, relativ kurz gefasste Handlung. Auch sprachlich sind sie einfach gehalten. Sie kommen meist mit Hauptsätzen und ohne detaillierte Beschreibungen aus. Es werden wiederkehrende Formeln eingesetzt, wie der Anfang: „Es war einmal…“ und der Schluss: „…und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“
Zum immer wieder kehrenden „Stammpersonal“ der Volksmärchen zählen u. a.: Königinnen und Prinzessinnen, Könige und Prinzen, Schwester und Bruder, Mutter, Vater und Stiefmutter. Diese werden mit magischen Figuren und Requisiten ergänzt. Die Figuren haben nur selten Namen, ihre Persönlichkeit wird nur oberflächlich beschrieben und sie zeigen nur wenige Gefühle.
Ort und Zeit des Geschehens werden nicht näher definiert. Dadurch, sowie durch die „Namenlosigkeit“ der Figuren, wirken die Volksmärchen allgemein gültig.
Am Anfang eines Volksmärchens liegt häufig eine Mangelsituation oder ein Problem vor, das zum Schluss einen glücklichen Ausgang findet.
Kunstmärchen
Bei den Kunstmärchen ist es bekannt, wer sie verfasst hat. Bekannte Märchendichter waren z. B. Hans-Christian Andersen und Wilhelm Hauff. „Die kleine Meerjungfrau“ und „das Mädchen mit den Zündhölzern“ sind Beispiele für Kunstmärchen.
Die Verfasser haben ihre Kunstmärchen in vielen Aspekten an die Volksmärchen angelehnt. So werden häufig typische Figuren, Symbole und magische Elemente verwendet.
Es gibt aber auch viele Unterschiede:
Die Handlung und die Sprache ist oft komplexer als in den Volksmärchen. Teilweise wird Ironie verwendet. Die Erzählweise ist ausschmückend, „romanhaft“, es gibt weniger formelhafte Wiederholungen. Kunstmärchen können sehr lang sein. Sie können ein offenes oder sogar ein trauriges Ende haben.
Die Figuren werden meist individueller dargestellt als in den Volksmärchen, sie haben einen Namen und einen vielschichtigen Charakter.
In manchen Kunstmärchen gibt es konkrete Orts- und Zeitangaben für die Handlung.
Sie transportieren oft sozial- und zeitkritische Inhalte.
Meiner Meinung nach haben sowohl Volks- als auch Kunstmärchen etwas für sich.
Kunstmärchen sind für mich vor allem unterhaltsam, fantasievoll und spannend.
Mit Volksmärchen verbinde ich Weisheit. Ich finde es faszinierend, dass man nicht weiß, wann sie ihren Anfang nahmen. Man kann sich nur ausmalen, wie viele Menschen sie von Generation zu Generation weitererzählt, angepasst und geprägt haben…
Die vielen mystischen Elemente und die versteckten Hinweise und Symbole zeigen mir, wie verbunden die Menschen einst mit der „unsichtbaren Welt“ waren.
Hänsel und Gretel
Symbole: Hexe, Wald, Lebkuchenhaus, Edelsteine, Wasser-Überquerung
(Wer das Märchen nicht kennt oder es sich nochmal in Erinnerung rufen will, findet es unter dem ersten Link im Quellenverzeichnis)
Das Märchen von Hänsel und Gretel hat durchaus einen historischen Hintergrund. In Zeiten von Hungersnöten (z. B. im Dreißigjährigen Krieg) waren Kindesmord und Kindessausetzung leider keine Seltenheit unter armen Menschen, die oft keinen anderen Ausweg sahen.
Die Ursprünge des Märchens werden in Hessen oder Schwaben vermutet, da dies sehr arme Regionen waren.
Hexe
Die Hexe ist eine häufig vertretene Märchengestalt, der in diesem Artikel natürlich die Hauptrolle zusteht.
Tritt eine Hexe im Märchen auf, ist sie stets die Gegenspielerin des Märchenhelden. Sie vertritt die Rolle des weiblichen Bösen, was die tatsächlich jahrhundertelang bestehende, tief sitzende Angst vor (magischen) Frauen widerspiegelt. Hexen wurden z. B. für Missernten, Krankheiten und Naturkatastrophen verantwortlich gemacht und es wurde ihnen nachgesagt, dass sie Menschen in Tiere verwandeln können.
Die Bosheit der Hexe bei „Hänsel und Gretel“ spiegelt sich in ihrem abstoßenden Äußeren wieder. Sie ist eine alte, bucklige Frau mit krummer, warziger Nase. In manchen Märchen kann sich die Hexe in eine schöne junge Frau verwandeln, um den Märchenhelden zu täuschen.
Auf Illustrationen in Märchenbüchern wird die Hexe häufig mit einer schwarzen Katze als Begleiterin gezeigt. In anderen Märchen treten auch Raben, Eulen, Kröten oder kleine schwarze Hunde als Hexenbegleiter auf. All diese Tiere haben dem Aberglauben nach einen schlechten Ruf. So sollen schwarze Katzen und schwarze Pudel mit dem Teufel im Bund stehen.
Die Hexe lebt einsam im Wald, was an sich schon Misstrauen erweckt, da man einer Frau früher kaum zutraute, allein zu leben. Es sei denn, sie bediente sich übernatürlicher Mittel, um zu Recht zu kommen.
Die Hexe besitzt einen Besen, auf dem sie fliegen kann, sowie einen Kessel, indem sie Zaubertränke herstellt.
In manchen Märchen finden sich Hinweise auf die Hexenprozesse des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, so auch in Hänsel und Gretel, da die Hexe am Ende im Ofen verbrennt. Am Ende von „Schneewittchen“ muss die böse Stiefmutter, welche als Hexe entlarvt wurde, „im Feuer tanzen“.
Die Wandlung der Hexe von der guten Frau, die den hungrigen Kindern Lebkuchen anbietet, zu dem Menschen fressenden Monster könnte auch für den Verlust der Mutterfigur, den Hänsel und Gretel erleben mussten, stehen. Kinder haben von Natur aus Vertrauen zu ihrer Mutter, wollen von ihr genährt werden. (= Lebkuchen, mästen) Doch die Mutter schickt sie in den sicheren Tod (Angst vor dem Aufgefressen- werden). Hänsel und Gretel haben also keine andere Wahl als sich von ihrer Mutter zu lösen.
Wald
Der Wald spielt eine Schlüsselrolle in deutschen Märchen. Fast immer, wenn der Märchenheld sich von einem Ort zum anderen begibt, durchquert er dabei einen Wald.
Ein Grund dafür ist sicher, dass der Wald früher die typische Landschaftsform in Deutschland war, die die menschlichen Siedlungen umgab. Der Wald lieferte lebenswichtige Ressourcen (Holz, Nahrung) und in ihm lebten verschiedene Tiere, von denen einige sehr gefährlich waren.
Auf der Symbolebene könnte man den Wald als einen Ort des Wandels betrachten, sowie als einen Ort des Ungewissen, sodass er zugleich bedrohlich und verheißungsvoll wirkt.
Der Märchenwald stellt ein Prüffeld der Selbsterkenntnis dar. Hänsel und Gretel werden dort vor schwierige Aufgaben gestellt und lernen wichtige Lektionen, sodass sie schließlich stärker aus dem Wald hervortreten: Sie haben gelernt, vorausschauend zu handeln, Problemlösekompetenz zu entwickeln und aufeinander aufzupassen. Sie sind im Prinzip erwachsen geworden.
Dass sich Hänsel und Gretel im finsteren Wald verirren, spiegelt die menschliche Urangst vor der Dunkelheit wieder. Die Angst, den Weg aus den Augen zu verlieren und seltsamen Wesen hilflos ausgeliefert zu sein. Das Abenteuer von Hänsel und Gretel endet mit deren Befreiung (=Sieg über die Angst).
In anderen Märchen versteckt sich der Märchenheld im Wald, wenn er sich gegen die eigene Wandlung sträubt. Er muss dann von einer anderen Figur gefunden werden, die ihm hilft, diesen Wandel zu vollziehen.
In dem im Quellenverzeichnis aufgelisteten Buch fand ich die interessante Interpretation, dass sich Märchenhelden im Wald auf Wegen der inneren Erforschung befinden. Dies bringt die Autorin damit in Zusammenhang, dass unsere inneren Strukturen (Knochen, Nerven, Blutbahnen) Pflanzen und Bäumen ähneln. Ich bezweifle allerdings, dass dieses Wissen schon bekannt war, als die Märchen entstanden.
Lebkuchenhaus
Das Lebkuchenhaus dient der Hexe dazu, die hungrigen Kinder anzulocken, um sie anschließend zu fressen. Es symbolisiert die Versuchung. Hänsel und Gretel geben der Versuchung nach und Moral daraus ist, dass man dies nicht tun sollte, da sonst Gefahr droht.
Meiner Meinung nach steckt aber nicht nur eine pädagogische Warnung für Kinder vor Fremden darin. Die süße Versuchung des Lebkuchenhauses kann auch für die weibliche Verführung stehen, vor der v. a. im Mittelalter gewarnt wurde, durch den Versuch der Kirche, sexuelle Bedürfnisse zu unterdrücken.
Edelsteine
Als Hänsel und Gretel die Hexe besiegt haben, decken sie sich mit deren Edelsteinen ein und holen ihre Eltern damit aus der Armut heraus. Somit ist der Prozess des Erwachsenwerdens, den Hänsel und Gretel durchlaufen haben, auch zum Wohl der Eltern. Gewandelt wie sie sind, werden die beiden zu Hause glücklich willkommen geheißen.
Wasserüberquerung
Auf dem Rückweg nach Hause müssen Hänsel und Gretel ein großes Wasser überqueren. Kommt dies in einem Märchen vor, deutet es stets auf eine große Veränderung hin. Im Falle von Hänsel und Gretel könnte die Überquerung wiederum auf den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, vom unreifen Denken zu vernünftiger und initiativer Überlegung stehen. Ein Neubeginn steht an, es handelt sich also um eine symbolische Taufe.
Quellen:
Hänsel und Gretel – Brüder Grimm (grimmstories.com)
https://lehrerfortbildung-bw.de/u_sprachlit/deutsch/gym/bp2016/fb7/06_maerchen/07_merkmal/
http://www.maerchenatlas.de/kunstmarchen/kunstmaerchen/
http://www.maerchenatlas.de/miszellaneen/marchenforschung/volksmaerchen/
Interpretationszugänge zu Grimms Märchen (lehrerfortbildung-bw.de)
Buch „Der Phantasie eine Stimme geben“ von Nancy Mellon, Aurum Verlag, Braunschweig, 1992