Liebe Leserinnen und Leser,
im dritten Teil meiner Märchen- Artikel- Reihe habe ich das Märchen „Schneewittchen“ näher betrachtet und euch Interpretationsansätze zu den vorkommenden Symbolen zusammen gestellt.
Schneewittchen:
Wer das Märchen nicht kennt oder es sich nochmal in Erinnerung rufen möchte, findet es unter dem ersten Link im Quellenverzeichnis.
Der Name „Schneewittchen“ bedeutet soviel wie „weiß wie Schnee“. Genauer gesagt ist es die plattdeutsche Übersetzung von „Schneeweißchen“. Diesen Namen trägt auch eine der Protagonistinnen in „Schneeweißchen und Rosenrot“, mit der Schneewittchen aber keine wesentlichen Gemeinsamkeiten hat.
Schneewittchen gehört zu einem in mehreren Märchen auftretenden Typus von Märchenfiguren: Als Prinzessin hat sie einen angeborenen, hohen gesellschaftlichen Status und wird dann von der Stiefmutter sozusagen vom Thron gestoßen. Sie muss durch eine Zeit von Prüfungen und Schwierigkeiten gehen, wodurch sie am Ende triumphiert und höher als je zuvor aufsteigt, indem sie Königin wird.
Symbole: Schönheit, Spiegel, Apfel, Kamm, todesähnlicher Schlaf, Zwerge, Stiefmutter
Schönheit:
Schneewittchens Schönheit ist der Dreh- und Angelpunkt des Märchens: Ihretwegen beneidet sie die Königin (Stiefmutter) und befielt dem Jäger, sie zu töten. Der Jäger verschont sie, weil sie so schön ist und die Zwerge bestaunen die schlafende Schönheit und nehmen sie bei sich auf.
Darin zeigen sich zwei Stereotypen: Erstens, dass Schönheit das einzig Wichtige ist, was eine Frau zu bieten hat. Zweitens, dass, wer schön ist, automatisch auch gut ist. Die Königin hingegen, die von Beginn an nicht so viel Schönheit wie Schneewittchen besitzt, wird, während sie ihren bösen Taten nachgeht, sogar noch hässlicher. (Ihre Verwandlung in die alte Frau)
Zeitgeschichtlich lässt sich dieses Thema auf die Adelsschicht des Barock beziehen. Man war sich der Vergänglichkeit von Schönheit und Jugend sehr bewusst, sodass diese Attribute sehr wichtig genommen wurden. Vor allem die Damen widmeten sich täglich stundenlang ihrer Schönheitspflege.
Schneewittchen entspricht mit ihren purpurroten Lippen, ihrer blassen Haut und ihrem schwarzen Haar dem Schönheitsideal der Barockzeit: Die blasse Haut war ein Statussymbol, da nur eine Frau, die nicht im Freien arbeiten musste, sie erhalten konnte. Das schwarze Haar verstärkt den Kontrast, sodass die Haut noch blasser wirkt.
Auf den meisten Bildern in Märchenbüchern wird Schneewittchen mit langen Haaren dargestellt, was lange Zeit ebenfalls essentiell für weibliche Schönheit war. Im Disneytrickfilm aus den 30-er Jahren wird Schneewittchen mit kurzen Haaren dargestellt, um dem mittlerweile veränderten Schönheitsideal zu entsprechen.
Ihre roten Lippen stehen für Sexualität und Sinnlichkeit, Attribute einer erwachsenen Frau. Im Kontrast dazu steht ihr kindliches Verhalten: Sie zeigt sich passiv, unschuldig und hilflos, muss stets von Männern gerettet werden.
Spiegel:
Der Spiegel steht einerseits im Kontext mit der Schönheitspflege. Er ist aber auch ein Symbol für das Unterbewusste und für unerreichbare Sehnsüchte/ Wünsche. Das Unterbewusstsein der Königin redet ihr ein, dass sie nicht schön genug sei. Sie wünscht sich, die Schönste im ganzen Land zu werden. Dadurch entflammt ihre Eifersucht auf Schneewittchen und sie ist bereit, über Leichen zu gehen, damit ihr Wunsch in Erfüllung geht.
Kamm & Apfel:
Die Königin wählt für ihre Mordanschläge einen vergifteten Apfel und einen vergifteten Kamm, weil sie davon ausgeht, dass diese beiden Gegenstände verlockend für Schneewittchen sind. Der Apfel ist sicher eine Anspielung auf die Schöpfungsgeschichte, in der die Frau Eva dem verbotenen Apfel nicht widerstehen konnte. So auch Schneewittchen.
Jede Frau, die etwas auf sich hielt, brauchte in der Barockzeit einen Kamm, da aufwendige Frisuren in Mode waren.
Todesähnlicher Schlaf:
Durch den Mordversuch der Königin mit dem Apfel fällt Schneewittchen in einen todesähnlichen Schlaf. Wie auch bei Dornröschen (siehe Märchenartikel 1) kann dieser als Initiation in die Erwachsenenwelt gesehen werden. Die Kindheit stirbt, Schneewittchen erwacht als erwachsene, sexuell ausgereifte Frau. (Heirat)
Zwerge:
Die Zwerge nehmen Schneewittchen bei sich auf, bei ihnen verbringt sie die Übergangszeit vom Mädchen zur Frau. Sie verhindern den ersten Mordanschlag auf Schneewittchen mit dem Kamm. Sie werden als freundliche kleine Männlein dargestellt, die „hinter den sieben Bergen“ leben und im Bergwerk arbeiten.
Grundsätzlich können Zwerge im Märchen zwei unterschiedliche Rollen besetzen: Entweder sind sie freundlich gesinnte Helfer des Heldens / der Heldin oder aber boshafte Gegenspieler.
Neben „Schneewittchen“ ist das Märchen „Die Wichtelmänner“ ein weiteres Beispiel für die Rolle hilfreicher Zwerge: Darin übernehmen Zwerge nachts die Arbeit eines Schuhmachers, sodass er morgens lauter fertige Schuhe vorfindet. Zwergen wird häufig handwerkliches Geschick nachgesagt. Sie gelten vor allem als gute Schmiede.
In manchen Märchen haben sie auch magische Kräfte, z. B. bei „Rumpelstilzchen“: Der Zwerg hilft der Müllerstochter in ihrer Not, indem er Stroh in Gold verwandelt. Allerdings verlangt er dafür als Gegenleistung ihren Schmuck, sowie ihr erstes Kind. Auch „Schneeweißchen und Rosenrot“ haben es mit einem richtigen „Giftzwerg“ zu tun: Gemein, listig und gierig nach Gold und Edelsteinen.
Ihren Ursprung haben die Zwerge in der nordischen Mythologie. Bereits in der Edda (altisländische literarische Werke aus dem 13. Jahrhundert) treten sie als Hüter unterirdischer Schätze auf. Sie wohnen stets im Gebirge, häufig in Höhlen. Interessanterweise ist es nicht klar, ob man sie sich ursprünglich klein vorstellte. Aber es ist überliefert, dass sie ihre Gestalt verändern können sollen und sich mithilfe von Tarnkappen unsichtbar machen können. Sie scheinen wild aussehende, langhaarige, halb nackte Gestalten gewesen zu sein.
Mit der Christianisierung wurden Zwerge als teuflisch stigmatisiert. Kleinwüchsige Menschen wurden als „Wechselbälger“ denunziert, die der Mutter vom Teufel oder von einer Hexe im Tausch gegen ihr eigentliches Neugeborenes untergeschoben worden waren.
In Märchen vermischen sich die christliche und die mythologische Sicht auf die Zwerge. Oft fließen Attribute von Kobolden, Hausgeistern, Elfen, Heinzelmännchen und Wichteln in die Rolle der Zwerge mit ein. Das heute vorherrschende, verniedlichende Bild kleiner „Gartenzwerge“ mit Zipfelmütze und Rauschebart geht auf die Märchensammlung der Gebrüder Grimm zurück.
Auch in Kunstmärchen treten Zwerge in vielfältigen Rollen auf, die von der ursprünglichen Mythologie oft weit entfernt sind. In „der kleine Muck“ von Wilhelm Hauff schafft es ein kleinwüchsiger Junge, durch Mut, Glück und Zauberei an Ansehen zu gewinnen. Einen ähnlichen Aufstieg vollführt der Zwerg in E.T.A Hoffmanns „Klein- Zaches, genannt Zinnober“. Hier handelt es sich allerdings um einen boshaften Blender, der die Menschen hinters Licht führt.
Stiefmutter:
Die Königin ist Schneewittchens böse Stiefmutter, ein Gegenspielerin, die in vielen Märchen auftaucht. Wie auch bei Schneewittchen macht sie oftmals von magischen Kräften gebrauch, wodurch sie einer Hexe ähnelt. Tatsächlich muss die Königin am Ende von „Schneewittchen“ im Feuer tanzen, was sicher an die Hexenverbrennung angelehnt ist.
In den meisten Märchen müssen die Stieftöchter leiden, selten die Stiefsöhne. (Bei „Hänsel und Gretel“ sind z.B. beide Geschlechter betroffen) Der Vater spielt meistens nur eine schwache Nebenrolle, der nichts gegen die schlechte Behandlung seines Kindes unternimmt.
Die Stiefmutter ist eifersüchtig auf Schneewittchens Schönheit und möchte sie deshalb töten. Hinter ihrem Ehrgeiz, die Stieftochter auszuschalten könnte aber auch Machtgier bzw. materielle Gier stecken: Es gibt verschiedene royale Erbfolgen. Wenn man davon ausgeht, dass es sich in diesem Märchen um eine matrilineare Erbfolge handelt, würde das bedeuten, dass der zukünftige Ehemann Schneewittchens der neue König werden würde. Nur, wenn der König kein Kind aus erster Ehe hätte, würde ein Sohn der zweiten Frau Thronfolger werden.
In vielen anderen Märchen ist nicht die Stiefmutter selbst die Konkurrentin der Heldin, sondern deren Töchter, die sie der Stieftochter gegenüber bevorzugt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist „Aschenputtel“. Hier heiratet ein Witwer, der bereits eine (sehr schöne) Tochter hat, ein zweites Mal. In der entstehenden Patchwork-Familie hat die Frau das sagen, die eigene Töchter mit in die Ehe gebracht hat, welche sie verwöhnt. Die Stiefmutter und die Stiefschwestern schikanieren die Märchenheldin.
Es ist historisch bewiesen, dass sich früher durch die hohe Sterblichkeit häufig solche Patchwork-Familien zusammen taten, da zwei Erwachsene mit vielen Kindern, also vielen Arbeitskräften, einfach mehr Überlebenschancen hatten. Meist wurde nach dem Tod des Ehepartners ein Trauerjahr eingehalten, bevor wieder geheiratet wurde.
Es gibt keine historischen Belege dafür, dass es üblich war, dass Kinder aus erster Ehe systematisch benachteiligt wurden. Aber sicher gab es Einzelfälle, die zu Geschichten wie „Aschenputtel“ und „Schneewittchen“ beitrugen.
Es fällt auf, dass die leibliche Mutter in Märchen stets eine gute Rolle besetzt. So hilft Aschenputtels verstorbene Mutter ihrer Tochter sogar vom Jenseits aus, um ihr aus ihrer misslichen und ungerechten Lage herauszuhelfen. Sicher war es für manches Stiefkind, das von seiner Stiefmutter nicht genug Liebe bekam, ein Trost, im Märchen zu hören, dass ihre richtige Mutter es noch immer liebte.
Tatsächlich ist dieses Bild von der guten Mutter in den Märchen wohl erst recht spät entstanden. In einer alten Fassung von „Hänsel und Gretel“ ist es zum Beispiel noch die leibliche Mutter, die ihre Kinder zum Verhungern in den Wald schickt. Erst in der späteren, heute geläufigen Version, handelt es sich dabei um die Stiefmutter. Vermutlich fanden die Märchensammler diesen Teil zu grausam, da es sich ja um „Kinder- und Hausmärchen“ handeln sollte. Kindern sollte die Illusion von der unfehlbaren, gütigen (leiblichen) Mutter erhalten bleiben. Das eine Stiefmutter ihr Stiefkind nicht so sehr liebt wie ihr eigenes, scheint dagegen noch akzeptabel zu sein.
Nach dieser ausführlichen Auseinandersetzung mit „Schneewittchen“, wünsche ich Euch weiterhin sonnige Sommertage!
Viele Grüße, eure Lyra
Quellen:
Interpretationszugänge zu Grimms Märchen (lehrerfortbildung-bw.de)