Märchen. Ich mochte sie in meiner Kindheit und ich mag sie bis heute. Diese alten Geschichten, in denen alles möglich zu sein scheint, die in ihrer eigenen Welt spielen und dennoch an die Realität erinnern. Sie kommen mal rätselhaft, mal lustig, mal grausam daher, immer mit einem guten Ende und mit einer Moral für den Leser. Diese Moral ist manchmal versteckt und erst bei genauer Betrachtung erkennbar. Häufig verkleidet das Märchen sie in symbolische Bilder.
Wer viele Märchen kennt, stellt fest, dass sich einige Symbole häufig wiederholen. Sie scheinen also besonders bedeutsam zu sein. Allerdings ist ihre Bedeutung ohne historisches, kulturelles und mystisches Hintergrundwissen nur schwer zu durchschauen. Gut, dass es Internetseiten und Bücher gibt, in denen Märchensymbole erklärt und analysiert werden.
Bei meiner Recherche fand ich unterschiedliche Interpretationen, was mich nicht wunderte, da Märchen meiner Meinung nach eine Kunstform sind und es daher nicht nur eine Wahrheit geben kann. Außerdem wurden die Märchen jahrhundertelang weitererzählt und verändert, bis sie schließlich jemand aufschrieb (z.B. die Brüder Grimm im neunzehnten Jahrhundert).
Ich habe die Infos, die mir stimmig erschienen, gesammelt und möchte sie in dieser dreiteiligen „Lumletter“- Artikelreihe mit euch teilen.
Zunächst werde ich eine Auswahl häufig vorkommender Symbole näher betrachten und dann ein auf ein bekanntes Märchen im Detail eingehen.
Eine kleine „Warnung“ vorneweg: Ich habe in diesem Artikel auf das „gendern“ verzichtet und habe mich für den Schreib- und Lesefluss, auf die männliche Version beschränkt. Dennoch sind natürlich beide Geschlechter gemeint.
Wasser
Gewässer sind in Märchen oft Orte, an denen sich der Held erfrischen kann, an denen er neue Erkenntnisse erlangt oder an denen eine Veränderung eintritt.
Häufig gibt es sprechende Gewässer oder sprechende Fische, die eine Warnung oder einen Tipp aussprechen.
Es gibt auch verwunschene Gewässer, die den Helden verwandeln, wenn er von ihnen trinkt. Während diese Verwandlung zunächst oft nachteilig für den Helden erscheint, ist sie unerlässlich für die weitere Handlung des Märchens und die innere Entwicklung des Märchenhelden. Wenn diese vollzogen ist, kann der Held zurück verwandelt werden und geht stärker daraus hervor. Ein Beispiel dafür ist das Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“.
Pferd
Das Pferd tritt häufig als Begleiter des Märchenhelden auf. Die Eigenschaften, die ihm von Natur aus zugeschrieben werden- Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit- werden im Märchen oft magisch überhöht. So gibt es beispielsweise fliegende Pferde, die den Helden in Windeseile ans Ziel bringen.
Wenn sprechende Pferde vorkommen, könnten diese das Unterbewusstsein- „die innere Stimme“ des Märchenhelden verkörpern. So spricht zum Beispiel in „die Gänsemagd“ der abgeschlagene Kopf ihres Pferdes der Magd jeden Tag zu, dass sie in Wirklichkeit eine Prinzessin ist.
Historisch betrachtet waren Pferde auch ein Statussymbol. So können sie auch in Märchen Wohlstand vermitteln, wenn zum Beispiel ein anfangs armer Märchenheld im Lauf der Geschichte zum Besitzer eines Pferdes wird. In Hans im Glück tauscht der Held seinen Goldklumpen zuerst gegen ein Pferd ein, was zeigt, dass diesem mehr Wert zugeschrieben wird, als den anderen Tieren, gegen die er es später eintauscht.
Ein Pferd kann auch für Freiheit stehen. Es gibt dem Besitzer die Möglichkeit, relativ schnell und sicher den Ort zu wechseln. Es erweitert also den Horizont des Märchenhelden und ist sein Helfer, mit dem er die Welt erkunden kann.
Wird das Pferd eines Märchenhelden als besonders stark, groß oder wild beschrieben, soll es seine Männlichkeit unterstreichen.
Geschwister
Wenn in Märchen Geschwister auftreten, ist oft der Jüngste der Held. Er ist mit positiven Attributen wie Freundlichkeit, Mut, Stärke, Schönheit, Ehrlichkeit und Nächstenliebe ausgezeichnet. Die Jugend war wahrscheinlich schon immer etwas positives und bewundernswertes für die Menschen, da sie mit Schönheit, Gesundheit und Lebenskraft assoziiert wird. So wundert es nicht, dass der Jüngste der Märchen- Liebling ist.
Auffällig ist auch, dass die Geschwister wiederholt in bestimmten Anzahlen auftreten. Zahlen spielen Insgesamt eine große Rolle in Märchen. Deutungsmöglichkeiten liefert die Zahlenmystik.
Es gibt zum Beispiel häufig drei Brüder. Diese sind meist Konkurrenten. Aus dem Konkurrenzkampf geht zum Schluss stets der Jüngste/ der Dritte als Sieger hervor. Der dritte Bruder ist mutig oder auch ein einfältiger und gutmütiger „Dummling“, der mit unerwarteten Fähigkeiten aufwertet. Er muss häufig eine Reihe von unmöglich anmutenden Abenteuern bestehen, an denen seine älteren Brüder scheitern, die er jedoch mit Witz, Mut und Freundlichkeit besteht und am Ende oft durch die Hochzeit mit einer Prinzessin und einem halben Königreich belohnt wird. Manchmal gibt es am Schluss auch eine Versöhnung zwischen den Brüdern (Bsp. „Die drei Brüder“ von den Gebrüdern Grimm).
Aber warum sind es drei Brüder und wieso ist ausgerechnet der Dritte der Held? Es ist anzunehmen, dass die drei eine so große Rolle in Märchen spielt, weil sie in der Zahlenmystik als göttliche Zahl gilt. Im Christentum spricht man zum Beispiel von einem dreieinigen Gott (Vater, Sohn, heiliger Geist) und es gibt drei göttliche Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung). Das erklärt, warum der Dritte im Geschwisterbund als unfehlbar gut gilt.
Schwestern können ebenfalls zu dritt auftreten (z.B. „Aschenputtel“), aber häufig sind sie auch zu zweit (z.B. „Frau Holle“), da die Zwei für Weiblichkeit steht. Die jüngste Schwester ist schön, gut und rein. Anfangs ist die Jüngste ihren Geschwistern gegenüber häufig im Nachteil, da diese egoistisch, berechnend und dominant sind oder von den Eltern bevorzugt werden. Doch am Ende wird sie für ihren guten Charakter und ihre Schönheit belohnt.- Typischerweise, indem sie von einem Prinzen geheiratet wird, während die älteren Schwestern leer ausgehen.
Ich mag das Märchen von „Schneeweisschen und Rosenrot“ sehr, da es zeigt, dass Schwestern auch Freundinnen sein können.
Wenn Bruder und Schwester vorkommen, werden diese auch als Team dargestellt und nicht als Konkurrenten (z.B. „Hänsel und Gretel“). Das liegt daran, dass ein Paar aus Männlichkeit und Weiblichkeit für eine harmonische Einigkeit steht.
Außerdem gibt es den Fall von sieben Geschwistern. Die Sieben steht in der Zahlenmystik für Vollkommenheit. Z.B. bilden die sieben Brüder bei „die sieben Raben“ eine Einheit, die zunächst „vollkommen böse“ sind. Durch die Verwandlung in Raben und die Rettung durch ihre jüngste Schwester, die Helden des Märchens, werden sie am Ende „vollkommen gut“.
Dornröschen
Symbole: Frosch, Dreizehn, Turm, Spindel, 100 Jahre langer Schlaf, Rosenhecke, rettender Prinz
(Wer das Märchen nicht kennt oder es sich nochmal in Erinnerung rufen will, findet es unter dem ersten Link im Quellenverzeichnis)
Frosch
Das Märchen beginnt damit, dass ein Frosch der Königin nach langem Warten und Hoffen, ihre Schwangerschaft ankündigt. Dass es ausgerechnet ein Frosch ist, der die Entstehung neuen Lebens verkündet, ist kein Zufall, da er als äußerst fruchtbares Tier gilt.]
Dreizehn
Die dreizehnte Fee ist nicht eingeladen zum Fest auf dem Königsschloss und aus Zorn darüber verflucht sie die Prinzessin. Es wundert keinen, dass ausgerechnet die dreizehnte Fee „die Böse“ ist, denn die Dreizehn landläufig als Unglückszahl bekannt. Aber woran liegt das?
Laut der Zahlenmystik steht die Zwölf für Vollkommenheit. Die zwölf Feen sind also eine vollkommene Gruppe und die dreizehnte Fee stört diese Vollkommenheit.
Aber warum hat die zwölf die selbe Bedeutung wie die zuvor erwähnte Sieben? Das liegt daran, dass in Beiden die Zahlen drei und vier stecken. Zwölf ist das Produkt daraus und sieben die Summe. Die drei steht wie gesagt für die Göttlichkeit, während die vier für Ordnung und Struktur steht. Zusammen ergibt sich daraus laut Zahlenmystik Vollkommenheit.
Turm
Als ihre Eltern nicht zuhause sind, erkundet die Prinzessin allein das Schloss und entdeckt einen Turm, in dem sie noch nie war. Dieser könnte dafür stehen, dass sie langsam erwachsen wird und beginnt, diesen neuen Lebensbereich zu erforschen. Die Ablösung von ihren Eltern beginnt.
Der Turm kann auch, optisch betrachtet, ein Phallussymbol sein, d.h., die Prinzessin entdeckt ihre Sexualität/ ihr Interesse am anderen Geschlecht.
Der Turm kann auch für die Einsamkeit stehen und weist damit bereits auf den danach anstehenden, hundert jährigen, einsamen Schlaf hin.
Spindel
Aufgrund des Fluches der bösen Fee verbannt der König alle Spindeln aus dem Königreich, um seine Tochter zu schützen.
Da die Spindel rein optisch an den Phallus erinnert, liegt die Interpretation nahe, dass der Fluch und die Verbannung der Spindel für die Tabuisierung der Sexualität steht, bzw. dafür, dass die Eltern die sexuelle Entwicklung ihrer Tochter aufschieben wollen. Letztendlich entdeckt die Prinzessin dennoch ihre Sexualität (bzw. sticht sich an der Spindel)- die Eltern haben keinen Einfluss darauf.
Dass sie sich daran sticht, könnte zeigen, dass von der Sexualität Gefahr ausgehen kann.
100 Jahre langer Schlaf
Der lange Schlaf könnte für die Übergangsphase vom Mädchen zur Frau stehen. Er macht deutlich, dass es nötig ist, sich intensiv und in Ruhe auf das eigene Ich zu konzentrieren, um erwachsen zu werden.
Vielleicht ist die Prinzessin überfordert mit dem neu entdeckten Erwachsenenleben und mit ihrem Tabu- Bruch ist, sodass sie sich in den Schlaf zurückzieht.
Hinter ihrem Schutzwall kann die Prinzessin geschützt schlafen und heranreifen. Viele Königssöhne versuchen die schlafende Schönheit vorzeitig zu retten, aber sie bleiben erfolglos.
Man könnte kritisieren, dass das Heranwachsen auf eine todesähnliche, mühelose Passivität reduziert wird, aus der die Betroffene reif und bereit für die sexuelle Vereinigung aufwachen wird. Dass dieses Bild sehr weit von der Realität abweicht, wird jeder Erwachsene bestätigen können.
Rosenhecke
Die Rosenhecke könnte für Sicherheit und Festigkeit stehen, die keiner überwinden kann.
Eine Rosenhecke ist einerseits wunderschön (Blüten) aber auch gefährlich (Dornen) – dies könnte eine Metapher für ein früher (leider) verbreitetes Frauenbild sein.
Zeitgeschichtlich ist zu bemerken, dass ab dem späten Mittelalter Hecken eine viel vertretene Absperrungs- und Begrenzungsform waren. Aufgrund von Holzmangel wurde der freie Zugriff auf den Wald eingeschränkt, sodass die Menschen eher Hecken pflanzten, anstatt z.B. Holzzäune zu bauen.
Der rettende Prinz
Hier wird das traditionelle Frauenbild dargestellt: Die Frau ist passiv und muss sich von einem Mann suchen und retten lassen. Die Passivität der Prinzessin wird sogar belohnt. Als sie für die Liebe endlich reif genug ist, wird sie durch den Kuss eines Prinzen von dem Zauberschlaf erlöst. Der Kuss bzw. die Hochzeit als Erlösung zeigt, dass die Ehe als Höhepunkt/ Ziel im Leben einer Frau angesehen wurde.
…So weit, so gut, zu Teil 1 der Märchensymbolik! Ich würde mich über einen Austausch in den Kommentaren freuen. Wie ist euer Verhältnis zu Märchen? Habt ihr Feedback, Anregungen und Ergänzungen zum Artikel?
Liebe Grüße, eure Lyra
Quellen:
Dornröschen – Brüder Grimm (grimmstories.com)
Märchenatlas – Once upon a time … (maerchenatlas.de)
https://www.grin.com/document/281570
Interpretationszugänge zu Grimms Märchen (lehrerfortbildung-bw.de)
Buch „Der Phantasie eine Stimme geben“ von Nancy Mellon, Aurum Verlag, Braunschweig, 1992