Aus dem Besenschrank kommen – Outing als Hexe: Sunray

 

Ich kann mich noch genau daran erinnern. Ich hatte mir mit 12 Jahren das Buch „Besen und Pentagramme“ der niederländischen Autorin Minerva in meiner Lieblingsbuchhandlung gekauft. Es gab dort extra einen Aufklärungsabschnitt für Eltern, um über das moderne Hexentum, Wicca usw. aufzuklären. An sich eine super Sache und nach reiflicher Überlegung zeigte ich meinen Eltern den genannten Abschnitt mit den Worten die jedes Kind bestimmt häufig benutzt: „Ich muss euch da mal was sagen…“.

Ich muss dazu sagen, dass meine Eltern nicht wirklich religiös waren. Meine Mutter, altkatholisch und nach einem Trauerfall im Freundeskreis bekennende Nicht-Gläubige. Mein Vater, Protestant, aber er hatte das letzte Mal die Kirche besucht, als ich meine Kommunion hatte. Eigentlich dann doch ganz easy dachte ich: Religion interessiert beide herzlich wenig, also kann ich ja sagen, dass ich mich für alte, ursprüngliche Wege interessiere. Leider weit gefehlt. Meine Mutter flippte völlig aus, beteuerte, dass das nur meine damals beste Freundin sein konnte, die mir diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Sie sei ja eh Satanistin und der Umgang mit ihr wäre für mich gemeingefährlich. Nun, meine Mutter hatte schon immer einen Hang zur Übertreibung und Verdrehen von Wahrheiten. Laut eigener Aussage meiner Freundin interessierte sie sich zwar für Magie (und leider später tatsächlich für das, was man als schwarze Magie bezeichnen würde), aber weniger, um es als Religion zu praktizieren, es gehörte für sie als Goth irgendwie dazu, tatsächlich bezeichnete sie sich aber als Atheistin. Genau diesen Wortlaut hatte meine Mutter wohl aufgeschnappt, als sie uns von außen in meinem Zimmer belauscht hatte und nach ihrem Gutdünken verdrehte.

Mein Vater sagte dazu erst einmal gar nichts, aber als ich ihm später noch einmal erläuterte, dass ich mich in dem Zuge auch viel für Natur und Heilkräuter interessierte, hatte ich ihn für mich gewinnen können. Für einen Gärtnermeister war es nun mal schön, einen Mitstreiter zu haben. Bei meiner Mutter sprach ich das Thema einfach nicht mehr an, mit meinem Vater tauschte ich mich oft abends aus, gab ihm meine Bücher in die Hand, erklärte ihm den Weg, den ich nun gehen wollte. Er respektierte das, stellte aber dennoch Fragen, die ich ihm wahrheitsgemäß und nach bestem Wissen und Gewissen beantwortete.

In der Schule hatte ich meist nicht so viel Glück, als introvertierte Person hatte ich wenig bis gar keine Freunde und bis sich eine Gemeinschaft formte, sollten einige Jahre vergehen. Erst als ich in der 8./9. Klasse ein paar Freundinnen und Freunde fand, die alle ähnlich tickten und sich für die gleichen Dinge begeisterten, konnte ich wieder ein wenig aufblühen. Da wir alle etwas alternativ waren (Rollenspieler, Computerspieler, Metaller und Goths) scheute ich mich auch nicht, ihnen von meiner Lebensweise zu erzählen. Sie alle respektierten es, begeistern konnte ich sie aber nicht, auch wenn ich mir erhoffte, jemanden zu finden, der meine Ansichten teilte.

Trotz der zunehmenden Präsenz und Möglichkeiten des Internets, fand ich wenig Anschluss, meistens blieb ich allein und sammelte mir Informationen von mehr oder weniger seriösen Seiten. In Foren traute ich mich nicht, da meine Eltern beide dem Internet und ihren unzähligen Gefahren sehr skeptisch gegenüber standen und mir Chatrooms und andere Dinge verboten. Natürlich nur, solange sie nicht hinsahen…

In meiner ersten Ausbildung konnte ich mich schlecht outen, ich hatte gerade mein Abi und privat die schwerste Phase meines Lebens. In dem Unternehmen fühlte ich mich nicht sehr wohl, die Mitarbeiter waren spießig, das Arbeiten ließ wenig Platz für Freiraum und Individualität. Ab da kam auch der Zeitpunkt, wo meine magische Praxis ein wenig einschlief. Mein Kopf war meist mit anderen Sorgen, Gedanken und Unterricht gefüllt. Ich habe meine ganzen Bücher, Rituale, meine Tarotkarten und Pendel sträflich vernachlässigt, ja, sie fast in Vergessenheit geraten lassen. Es stimmte mich traurig, dass ich mich nicht so entfalten konnte, wie ich wollte, wo doch meine Partnerin eine ev. Theologin und Religionswissenschaftlerin kein Problem damit hatte und immer witzelte, dass wir beide „wahrhaftige Ökumene“ lebten. 2012 startete ich einen Versuch, mich beim Stammtisch der Hexen und Heiden in Bochum blicken zu lassen, doch ich schob es jedes Mal auf, hatte Angst davor, (viele) fremde Menschen zu treffen.

Meine persönliche magische Renaissance fand erst Anfang 2013 statt, als ich beim Tribal Tanzkurs eine Frau kennenlernte, die mich zu einem Stammtisch führte und wo ich wieder unter bzw. das erste Mal im realen Leben unter Gleichgesinnten sein konnte. Beflügelt von so viel Unterstützung und Kreativität führte mich die Reise schließlich zu euch: Lumnetta.

Die Krisen die danach kamen, eine neue Ausbildung, ein Umzug, hatten nun nicht mehr zu Folge, dass ich den Kopf in den Sand steckte und meinen Weg nicht mehr sah. Auch wenn es die ein oder andere Pause durchaus gab, länger als ein paar wenige Monate waren es nie. In der neuen Ausbildung musste ich mich zwangsweise ein wenig bedeckt halten. Ich war in einem evangelischen Seniorenheim, dass zwar relativ offen bezüglich seiner Mitarbeiter war, aber unangenehme Gespräche wollte ich mir dann dennoch ersparen. Natürlich hätte auch alles anders kommen können, aber wenn im Ausbildungsvertrag eine biblische Präambel und Wert auf ein christliches Leitbild gelegt wird, hätte ich mich ungern weit aus dem Fenster lehnen wollen.

In meinem momentanen Job gibt es aber keinerlei Probleme, meine Chefin weiß durchaus, dass ich Yule statt Weihnachten feiere, dass ich mich für magische Themen interessiere. Ich denke, sie nimmt es einfach hin, genauere Fragen hat sie nicht gestellt, aber das muss ja auch nicht sein. Sie akzeptiert es und sollte sie irgendwann mal Fragen haben, werde ich sie beantworten wie damals meinem Vater. In der „Öffentlichkeit“ halte ich es so, wer vernünftig fragt, bekommt vernünftige Antworten. Ich habe das Wort Hexe weder auf meiner Stirn stehen, noch brülle ich es jedem ins Gesicht. Aber ich sehe es nicht ein, meine Kettenanhänger zu verstecken, wer in mein Büro kommt, wird zwangsläufig meinen Altar sehen. Ich betreibe einen Blog wo ich mit meinem Klarnamen im Impressum stehe, auf Facebook teile ich Posts diverser paganer Seiten und Personen. Wer also aufmerksam beobachten und zuhören kann, wird das Outing mitbekommen und mir entweder neutral, freundlich oder unfreundlich gegenüberstehen. Religion ist für mich Privatsache, aber ich mache auch keinen Hehl daraus, wobei ich dennoch abwäge. Bald trete ich eine neue Vollzeitstelle an und dann wird das Abtasten erst einmal wieder losgehen, aber den Göttern sei Dank, spielt es weder in Vorstellungsgesprächen noch während meiner Arbeitszeit eine Rolle, ob ich katholisch, evangelisch oder eben heidnisch bin.

Verstecken und leugnen muss sich heutzutage keiner mehr, wie ich finde. Ein gesundes Maß an Menschenverstand wem man was erzählt, sollte man dennoch immer haben, denn leider ist unsere Lebensausrichtung immer noch eine kleine Nische und keine anerkannte Religion, wie in den USA oder anderen Ländern, die sehr tolerant gegenüber Naturreligionen sind. Organisationen wie die PFI setzen sich aber für die Lobby ein, in der langen Nacht der Religionen treten immer häufiger Gruppen mit öffentlichen Ritualen ans Licht, um zu zeigen, dass wir die gleiche Daseinsberechtigung haben wie Katholiken, Protestanten, Juden oder Muslime.

 

Sunrayravyn
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